Der Hackfleischheld
Es war Abend, halb neun. Die Autofahrt nach Hause hatte doppelt so lange wie üblich gedauert. Ein Unfall auf der Autobahn, Stau, Chaos. Die Kinder waren hungrig, müde und quengelig, was gut zu verstehen war.
Das ganze lange Wochenende und den heutigen Montag waren wir bei meinen Eltern gewesen, um Mutter zu helfen. Vater ging es schlecht. Mutter kam kaum mit dem Haushalt und der Pflege nach. Fünf Tage intensive Mithilfe in meinem Elternhaus lagen hinter uns. Jetzt, zu Hause, trafen unsere fünf leeren Mägen auf den gähnend leeren Kühlschrank.
„Fahr schnell noch einkaufen. Der Supermarkt hat noch geöffnet. Wir machen noch Nudeln mit Hackfleischsoße. Die Kinder freuen sich drauf. Sie haben die Fahrt nur mit dem Gedanken an ein leckeres Abendessen durchgehalten“, sagte meine Frau müde.
Ich machte mich schnell auf den Weg. Der Supermarkt hatte zwar regulär bis neun Uhr abends geöffnet. Man fing dort an der Fleischtheke aber schon um halb neun an, die Waren wegzuräumen und die Maschinen zu reinigen. „Wird schon klappen!“, dachte ich, „Dann also zuerst an die Fleischtheke.“ An der Fleischtheke musste man eine Nummer ziehen und warten, bis man aufgerufen wurde. „H78“ stand auf meinem Nummernschnipsel. „H78“ stand auf der Leuchtanzeige.
„Ein Pfund ‚Halb-und-halb‘“, sagte ich zu der Fleisch- und Wurstwarenfachverkäuferin. „Gulasch oder Hack?“ - „Hack!“, sagte ich. Ohne nachzusehen erwiderte sie: „Haben wir heute nicht mehr. Darf es sonst noch etwas sein?“ Wortlos und kopfschüttelnd drehte ich mich um und eilte zu der Auslage, in der das bereits abgepackte Fleisch auslag. Leer. Also zurück zur Fleischtheke. Jetzt stand „H79“ auf der Leuchtanzeige und eine alte Dame vor mir.
„Jetzt noch 43 Gramm Schmierwurst und 77 Gramm Pfeffersalami, bitte. Aber die Salami ganz dünn aufschneiden!“, hörte ich sie sagen. Die Fleisch- und Wurstwarenfachverkäuferin rollte mit den Augen und machte sich daran, die Schmierwurst und die Pfeffersalami vorzubereiten. Für das Portionieren der Schmierwurst musste sie das bereits gespülte und desinfizierte Fleischermesser herausholen und es schien, dass neben den 43 Gramm Schmierwurst, die sie für die alte Dame abschnitt, die gleiche Menge am Messer kleben blieb. Man konnte der Fleisch- und Wurstwarenfachverkäuferin ansehen, wie missmutig sie wegen des verschmutzten Messers war. Und dann musste sie wegen der Pfeffersalami auch noch die schon gereinigte Schneidemaschine in Betrieb nehmen.
Es war schon kurz vor neun, als die Leuchtanzeige auf „H80“ umsprang und ich meinen Nummernschnipsel in das Körbchen auf der Glastheke legen durfte.
„Ach, darf es doch noch etwas sein?“, die Fleisch- und Wurstwarenfachverkäuferin versuchte erfolglos, nicht genervt zu wirken.
„Ja. Könnten Sie mit bitte ein Pfund Gehacktes geben? Sie haben doch dort Fleisch liegen, das sie nur durch den Fleischwolf drehen müssen“, sagte ich so freundlich wie möglich.
„Nein, die Maschinen sind alle schon gereinigt. Mache ich heute nicht mehr. Wir schließen gleich. Sie können sich etwas von dem aussuchen, das wir hier in der Auslage haben. Braten, Gulasch, Kotletts oder die frischen Bratwurstschnecken dort.“
Anscheinend konnte man sich als Fleisch- und Wurstwarenfachverkäuferin so etwas leisten. Na ja, der einzige große Supermarkt im Umkreis von zehn Kilometern, auf dem Land, in unserer Kleinstadt. Mit dieser Fleisch- und Wurstwarenfachverkäuferin war ich leider auch schon öfter aneinander geraten, wenn ich kurz vor Ladenschluss an der Wursttheke noch etwas einkaufen wollte. Jetzt hatte ich aber keine Lust und auch keine Energie mehr, einen Streit anzufangen. Ich sollte an dem Abend wohl nicht mehr gewinnen. Irgendwie konnte ich sie verstehen. Die Arbeit an der Fleischtheke ist oft erst spät zu Ende. Aber es war doch eigentlich ihr Job, die Kunden zu bedienen, die zur regulären Öffnungszeit an die Theke kamen.
„Was mache ich denn jetzt?“, dachte ich laut. Ich wusste, dass die Kinder sehr entäuscht sein würden, wenn, nach all den Anstrengungen und Entbehrungen des vergangenen Wochenendes, nun auch noch das geliebte und auf der Rückfahrt viel diskutierte Gericht nicht zubereitet werden würde.
Ich überlegte, ob ich vielleicht etwas von dem Fleisch aus der Auslage kaufen und es zu Hause selbst hacken könnte, Kotlett, Gulasch, Braten. Ohne Fleischwolf wäre das aber sehr mühsam gewesen. Würde man hier im Supermarkt wohl einen Fleischwolf kaufen können? Wohl eher nicht. Ich lief schnell zur Haushaltswarenabteilung und sah nach – definitiv nicht.
Alles mögliche wurde dort angeboten. Teeeier, Bratenthermometer, Zahnstocher, Messer, Saugnäpfe, Eiharfen, Honiglöffel, Zahnpastatubenausquetscher, Schaschlikspieße, Salzstreuer und so weiter.
Also dann ab nach Hause und auf dem Weg zum Schnellimbiss. Dann müssen es mal wieder eine Bratwurst und Pommes Frites tun. Da würde die Frau begeistert sein. Das konnte doch nicht sein.
Irgendeine Möglichkeit hatte ich übersehen...
Viertel nach neun, zu Hause: „Kinder, Frau, kommt mal in die Küche, ich brauche Eure Hilfe beim Kochen!“
„Was ist das denn? Bratwurstschnecken? Mögen wir nicht, wollen wir nicht! Wir hatten uns auf Nudeln mit Hackfleischsoße geeinigt! Papa, das ist gemein!“
„Jetzt beruhigt Euch bitte. Im Supermarkt gab es kein Hackfleisch mehr und ich wollte mich nicht schon wieder mit der Fleisch- und Wurstwarenfachverkäuferin anlegen. Passt mal auf. Bitte holt mal die Nudeln und die anderen Zutaten für die Soße aus dem Schrank“, sagte ich und packte die Bratwurstschnecken aus, „wir machen jetzt einen Trick! Oder heutzutage sagt man dazu Hack.“
Aus der Einkaufstasche zog ich unseren neuen Zahnpastatubenausquetscher hervor und blickte nacheinander in ungläubige Gesichter. Dann nahm ich die erste Bratwurstschnecke aus der Verpackung, wickelte sie ab und quetsche sie mit dem Zahnpastatubenausquetscher aus.
„Voi la, Hackfleisch für die Hackfleischsoße!“
Im Chor ertönte es:„Papa, Du bist unser Held, unser Hackfleischheld!“
„Ja, ich bin der Bratwursthacker“
28.3.20