Der Stier
Ich liege im Bett, schlafe und weiß, dass ich gerade träume. Hinten, an meinem Rücken, spüre ich einen kalten Luftzug, der immer wieder unter die angehobene Bettdecke zieht. Es ist unangenehm. Meine Versuche, die Bettdecke wieder nach unten zu drücken und unter meinem Körper einzuklemmen, scheitern mehrfach.
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Ich bin draußen und trage Arbeitskleidung. Meinen alten Blaumann, der noch aus meiner Ausbildungszeit bei den Stadtwerken stammt. Meine Schuhe fühlen sich schwer an. Es sind die Sicherheitsstiefel mit Stahlkappe, die ich am Ende meiner Ausbildung noch neu erhalten hatte. Die Oberseite der Schuhe ist mit frischem Grasschnitt bedeckt.
Dann blicke ich auf und erkenne, dass ich nicht auf einer einfachen Wiese stehe. Nein. Es ist eine weitläufige Weide, die links und rechts mit einem Zaun begrenzt ist. Sie erstreckt sich in einer hügeligen Landschaft. Vor mir, am Ende der ebenen Weide, kann ich einen weiteren Zaun erkennen.
Die Weide, auf der ich stehe, ist frisch gemäht. Die Weide, die sich in der Ferne, an dem Zaun vor mir anschließt, ist nur zu einem kleinen Teil gemäht.
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Meine jüngste Tochter, sie ist erst knapp zwei Jahre alt, schläft sehr unruhig. Ihre Beine arbeiten und schieben die Bettdecke immer wieder hoch. Ihre Tritte hieven mich immer wieder aus dem Tiefschlaf in einen Dämmerzustand hoch, in dem ich weder wach bin noch schlafe.
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Auf der Weide steht ein Mann neben mir. Er trägt grüne Arbeitskleidung und matschige Gummistiefel. Er deutet auf die Weide hinter dem Zaun vor mir und erklärt mir, dass sie noch gemäht werden müsse. Diese Weide ist schwieriger zu bearbeiten. Hinter dem Zaun erstreckt sie sich nach rechts und steigt steil an. Oben, am Ende der Weide steht das Bauernhaus.
Bis dorthin müsse gemäht werden, erklärt der Mann weiter. Und ich solle gut aufpassen, auf der ungemähten Weide werde ein Stier gehalten.
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Die kleine Babydecke, die ich in der Nacht aus ihrem Bett geholt habe, liegt über meinem Oberkörper. Ich habe sie so hoch gezogen, dass auch mein Kopf bedeckt ist. So fühlt es sich einigermaßen warm an.
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Auf der Weide schreite ich voran. In Richtung des Zaunes, der vor mir liegt. An dem Hang kann ich unterhalb des Bauernhauses ein tiefschwarzes Geschöpf erkennen. Das muss der Stier sein.
Es sei ein junges Tier erklärt mir der Mann, der sich mit mir auf den Weg gemacht hat.
Womit ich die Weide mähen soll, kann ich nicht erkennen. Ich habe keine Sense, keinen Mäher. Meine Hände sind leer.
Wir kommen dem Zaun näher und ich erkenne ein Weidetor. Es ist geöffnet. Mich durchfährt ein Schreck. Was ist mit dem Stier? Wo ist er jetzt?
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An die Vorderseite meines Körpers schmiegt sich unsere Mittlere. In diesem Sommer wird sie fünf Jahre alt und seit nunmehr knapp fünf Jahren kommt sie fast jede Nacht zu mir ins Bett gekrochen und sucht meine Nähe. Meinen linken Arm lege ich um sie. Ich kann mich zu keiner Seite bewegen. Nicht, dass die Kinder aufwachen.
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Ich blicke den Hang hinauf. Da ist er, der schwarze Stier, der Jungbulle. Er hat zwei lange, seitlich abstehende, gebogene Hörner. Sie sind jeweils bestimmt vierzig Zentimeter lang, mehrfach gekrümmt und spitz zulaufend. Der Stier ist eine sehr imposante Erscheinung. Und er ist schon ein Stück den Hang hinab geschritten.
In meiner Magengegend macht sich ein flaues Gefühl breit. Angst. Was, wenn er noch näher kommt?
Es könne gut sein, dass er aggressiv auf uns reagiere, sagt mir mein Begleiter. Wir müssten Acht geben, falls er uns näher komme.
Ich bleibe stehen. Bin ich starr vor Angst? Ein kalter Schauer fährt mir über den Rücken.
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Die Bettdecke hinter meinem Rücken wurde wieder angehoben. Ich klemme sie wieder unter. So ist es wieder etwas wärmer.
Bitte, bitte schlaf doch, Kleinste. Halte Deine Beine ruhig. Lass die Decke unten.
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Der Stier kommt näher. Ich stehe nur da.
Wir müssen genau beobachten, was der Stier nun macht, warnt mich mein Begleiter.
Vielleicht geht er von alleine wieder.
Nein, er geht nicht. Er baut sich vor uns auf und verharrt zunächst still.
Ich weiche langsam zurück. Besser, ich gehe auf Abstand. Nur provozieren oder erschrecken darf ich ihn nicht. Dann weiche ich etwas schneller zurück und überlege, wohin ich mich zurückziehen könnte. In Sicherheit.
Wohin soll ich fliehen? Wohin kann ich fliehen? Was könnte ich tun, damit der Stier sich beruhigt, das Interesse an uns verliert?
Der Stier setzt sich in Bewegung. Langsam. Zunächst scharrt er mit dem Huf. Dann läuft er los.
In mir steigt Panik hoch. „Weglaufen“ ist mein erster Impuls, ein Reflex.
Ich drehe mich um und laufe los. Hinter mir höre ich das Trommeln der Hufe auf dem Weideboden. Als ich mich umdrehe ist der Stier direkt hinter mir. Aber er hat mich noch nicht eingeholt.
Eine zweite Welle von Panik überrollt mich.
Wird er mich auf die Hörner nehmen? Wird er mich aufspießen? Wird er mich zertrampeln?
In Panik laufe ich Zickzack, im Kreis, auf die gemähte Weide, von der ich gekommen war. Mein Begleiter bleibt bei mir, an meiner Seite. An ihm scheint der Stier aber nicht interessiert zu sein.
An der rechten Seite der Weide, auf die ich geflüchtet bin, finde ich einen Hauseingang. Ist da ein Haus? Vorher war da nichts. Den Hauseingang kenne ich. Es ist der Hauseingang meines Elternhauses. Die vier Stufen hinauf zur Haustür, das gemauerte Podest links neben der Haustür. Dorthin war ich schon einmal geflüchtet. Vor langer Zeit, als ich noch ein Kind war.
Also laufe ich dort hinauf. Hoffentlich wird der Stier mich nicht verfolgen weiter verfolgen! Hoffentlich bin ich dort sicher bin vor ihm! So wie vor dem Hund, vor dem ich einst hierher geflüchtet bin. Vor dem war ich hier oben sicher.
Doch der Stier ist groß. Er kommt mit seinen langen Hörnern hoch, bis an mich heran. Ich kann mich nicht entziehen. Er wird mich einholen. Das ist sicher. Doch wird es hier und jetzt sein?
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Meine Augen sind geöffnet. Die Gefühle aus meinem Traum durchtränken meinen Körper.
Durch das Fenster sehe ich, dass langsam die Sonne aufgeht. Der Radiowecker zeigt 4:38 an. Eine Stunde könnte ich eigentlich noch schlafen. Ist das eine gute Idee?
Am Rücken ist mir wieder kalt. Ich klemme mir erneut die Bettdecke unter. Dann schließe ich meine Augen.
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Der Traum ist vorbei. Er kommt nicht wieder. Was hat er zu bedeuten?
Im Halbschlaf läuft mein Gehirn auf Hochtouren. Was hat der Traum zu bedeuten? Wovor habe ich Angst? Was kommt da auf mich zu? Was kommt da auf uns zu? Wofür steht der Stier?
Dann die Erkenntnis. Glaube ich zumindest.
Seit Monaten macht sich das Corona-Virus breit. Am Anfang war es eine kleine Meldung in den Nachrichten. Ein Virus in China. Weit entfernt. Niemand wusste, was es genau ist, wie es sich verhalten und verbreiten und ob es überhaupt zu uns kommen würde.
Seit Wochen ist klar, dass das Virus sich auf der ganzen Welt ausbreitet. Es ist aggressiv, es ist bei manchen Menschen tödlich. Vielen Menschen kann es aber nichts anhaben.
Es wird unser Gesundheitssystem extrem beanspruchen, vielleicht überfordern. Es fordert uns als Gesellschaft heraus. Es wird uns vielleicht auf die Hörner nehmen.
Wir wissen nicht wann, wir wissen nicht wie schlimm, wir wissen nicht, wie lange es dauern wird. Wie wissen nicht, wo es uns treffen wird. Wir wissen nicht, ob und wie wir uns davon erholen werden.
Meine Frau arbeitet im Gesundheitswesen, in leitender Funktion. Seit Wochen wirkt sie angespannt, besorgt, manchmal nervös. Es scheint deutlich mehr Ungewissheit als Gewissheit zu geben.
Sind wir vorbereitet? Was können, was müssen wir noch vorbereiten? Auf wen ist Verlass, auf wen nicht? Wie lange werden wir durchhalten? Welche Opfer müssen gebracht werden? Was wird das alles mit uns machen?
Der Stier steht vielleicht für die Pandemie. Sein Verhalten ist mit wissenschaftlichen Mitteln beschreibbar, aber es bleibt doch unberechenbar. Und schwer zu beeinflussen.
Wie schützen wir uns? Wie schützen wir unsere Kinder? Wie wird die Welt aussehen, wenn wir das hinter uns haben?
Obwohl ich glaube zu schlafen, mache ich mir diese Gedanken. Also schlafe ich, oder doch nicht?
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Die rot leuchtenden Segmente des Radioweckers zeigen 5:30 an. Noch eine Viertelstunde. Ich fühle mich müde und geschafft.
5:45. Der Wecker klingelt. Ein neuer Tag. Ein neuer Kampf. Mit dem schwarzen Stier im Nacken.
Wir stehen auf.
Meiner Frau mache ich das Frühstück und verabschiede sie in den neuen Arbeitstag. Sie ist angespannt.
Ich auch.