Die haben mich laufen lassen
von Winfried Dittrich
»Was kann ich denn dafür, dass es hier und jetzt so voll ist?«, ätzte ich zurück. Es war Heiligabend und wir standen schon gefühlte zehn Minuten lang hinter einem Linksabbieger, der wegen des aus dem Einkaufszentrum kommenden Autostroms nicht abbiegen wollte. Es dämmerte schon.
»Ich werde keine Zeit mehr haben, ein passendes Geschenk für dich zu finden«, maulte Katharina. Jedes Jahr war es das Gleiche. Sofern der vierundzwanzigste Dezember auf einen Werktag fiel, steckten wir im Einkaufsverkehr fest. Diesmal hatten die Geschäfte noch für eine halbe Stunde geöffnet.
Unser »Austausch« über Prioritäten, die man an diesem Tag setzten sollte, glich der Verkehrssituation, in der wir gerade stecken. Man bewegte sich in entgegengesetzten Richtungen aneinander vorbei und drohte frontal zusammen zu prallen, wenn man beim Abbiegen einen Fehler machte.
Der Fahrer vor uns machte keine Fehler. Er hatte einen gehäkelten Klorollenüberzug auf der Hutablage und einen Regenschirm. Außerdem trug er einen Hut auf dem Kopf.
Während ich diverse Gemeinheiten mit Katharina austauschte, hatte ich vollkommen vergessen, dem Senior vor uns ein bisschen Starthilfe zu geben. Man muss an dieser Straßenecke einfach ein bisschen forscher in den Gegenverkehr hinein fahren, dann bildet sich immer eine Lücke. Das hört sich vielleicht gefährlich an, aber dabei ist noch nie etwas passiert, glaube ich.
Überhaupt war es etwas verwunderlich, dass bisher noch kein Auto hinter uns die Hupe eingesetzt hatte. Was hatten die alle für eine Engelsgeduld? Jedenfalls drückte ich dann fest auf die Lenkradnabe. Nichts passierte. Ach ja. Französischer Kleinwagen aus den Neunzigern. Ich drückte den Blinkerhebel entlang seiner Längsachse zur Lenksäule hin, um mich bemerkbar zu machen. Mit einem »Mach, Oppa!“ untermalte ich den schrillen Signalton.
»Nun, lass doch den alten Mann in Ruhe. Du verdirbst ihm auch noch das Weihnachtsfest!«, kommentierte Katharina. Der Wagen vor uns rollte ein paar Dezimeter weiter nach vorne und nach links. So gab er etwas mehr Straßenbreite frei. Das war meine Gelegenheit. Zwar war der Gehweg rechts von Absperrpollern gesäumt, doch er ließ dort genug Platz. An der Stelle direkt hinter dem Opa war der Bordstein abgesenkt. Ich erzeugte mit der Hupe noch einmal einen nervösen Weihnachtsgruß, der den behuteten Fahrzeuglenker ein weiteres Stück in den Gegenverkehr drängte, und fädelte dann die beiden rechten Räder von Katharinas Wagen auf den Rand des Bordsteins auf. Mein Blick wechselte schnell von links nach rechts, um die Spitzen der Außenspiegel mittig zwischen dem Opa-Auto und den Fußwegbegrenzungspollern zu platzieren. Dann gab ich mehr Gas, schaltete zügig in den zweiten Gang.
Fünfzig Meter weiter ließ ich das kleine blaue Geschoss, mit dem wir unterwegs waren, am nächsten abgesenkten Bordstein hinuntergleiten. Dafür, dass wir mittlerweile mit dreißig Stundenkilometern unterwegs waren, fühlte es sich sanft, fast galant an – ich kenne mein Revier.
Katharinas Warnrufe während dieses Kickstarts ignorierte ich. Groß fühlte ich mich, potent, als Beherrscher des Fahrzeugs, König der Hauptstraße.
Als ich weitere fünfzig Meter weiter mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht an der nächsten Ampelschlange zum Stehen kam, blickte ich erstmals nach einer Viertelstunde wieder in den Rückspiegel. Irgend so ein Rowdy machte mir meine Präzisionsfahrt über das schmale Stück Bürgersteig doch tatsächlich nach.
»Mann, hat der ein Tempo drauf«, sagte ich zu Katharina, »und das mit Dachgepäck.«
So ein Angeber, dachte ich noch, bevor zwei Blinklichter an dem Dachgepäckstück die Dämmerstraßenstimmung abwechselnd blau beleuchteten.
Vor den Polizeibeamtinnen, die mich zur Rede stellten, tat ich ganz kleinlaut, entschuldigte mich, bat um „Gnade weil Weihnachten ist.“ Letztlich ließen sie mich laufen.
Katharina schenkte mir diesmal zu Weihnachten nichts aus dem Einkaufszentrum. Das Monatsticket für den Bus konnte sie online für mich lösen.
12.9.21