Gorilla
Von Winfried Dittrich
Hier stehe ich nun vor dem Käfig. Die Milchpumpe in der rechten, den Kanister in der linken Hand. Ich traue mich nicht, hineinzugehen. Also, mein Herr traut sich nicht, hineinzugehen. Ich mache ja nur, was er will. Wie kommt er immer wieder auf derartige Aufgaben? Beziehungsweise, wie sein Unterbewusstsein darauf kommt, könnte man sich fragen. Das spricht ja auch immer ein Wörtchen mit.
In dem Käfig befindet sich eine Flachlandgorilladame, die vor Kurzem entbunden hat. Oder heißt das »geworfen«, bei den Gorillas?
Mein Herr hat wohl wieder Stress. Er ist kürzlich Vater geworden und hat jetzt Elternzeit, damit seine Frau ihrem Vollzeitjob nachgehen kann. Davon ist sein Chef nicht sonderlich begeistert. Mit dem habe ich hier auch schon einmal persönlich Bekanntschaft gemacht. Anders kann ich mir das nicht erklären.
Mit der Milchpumpe soll ich den Affen melken, soviel weiß ich. Und, dass es um eine lukrative Geldquelle geht.
An der an sich recht alt und gebraucht anmutenden Käfigtür hängt ein relativ neues Hinweisschild mit einem Piktogramm, welches auf die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung im Tiergehege hinweist. Richtig, Gorillas sind Primaten. Die können sich mit Coronaviren anstecken. Also auch mit SARS-CoV-2, das ja gerade hoffentlich nicht in aller Munde ist. Eine Zoonose im Zoo … Entschuldigung, mein Herr mag Wortspielereien.
Ich überlege kurz, ob mich der zusätzliche Hinweis auf »2G« an der Tür verwirrt. Aber, der hat ja nichts mit der Anzahl der Affen, sondern etwas mit Schutzvorkehrungen zu tun. Außerdem befindet sich gerade nur diese eine Gorillamutter in dem Käfig. Gorillatechnisch ist es also eine »1G«-Umgebung, was ja das Vernünftigste ist, denkt mein Herr. Also denke ich das auch. Außerdem lassen sich Flachlandgorillas in Gesellschaft ihrer Artgenossen nicht so gut von einem Menschen melken. Das spüre ich irgendwie. Oder mein Herr.
Die Milchpumpe ist nicht das einzige technische Gerät, das mir zur Verfügung steht. Ich führe noch ein Smartphone mit, auf dem lediglich eine App läuft, die mir Zugang zu einer Datenbank verschafft. Darin kann ich nachlesen, auf Basis welcher Informationen mein Herr jene Traumteile entwickelt, die ich stellvertretend für ihn durchspielen muss.
Da ich mich frage, warum dort eine einsame, milchproduzierende Flachlandgorillamutter in einem Tierparkgehege sitzt, sehe ich mal nach.
Aha, mein Herr hat einen Artikel darüber gelesen, dass es in den europäischen Zoos zu viele Tiere dieser Art gibt und die Jungen nun getötet werden sollen, obwohl ihre in der freien Wildbahn lebenden Artgenossen vom Aussterben bedroht sind. Das erklärt es. Unter »Verwandte Themen« wird mir ein Artikel über »Tierkörperbeseitigungsanstalten« vorgeschlagen. Ich packe das Handy weg und setze meine Mund-Nase-Bedeckung auf.
Noch bevor ich die Käfigtür vollständig geöffnet habe, ist meine Brille beschlagen. Wie soll ich den Gorilla im Nebel finden? Sagte ich schon, dass mein Herr auf Wortspiele steht?
Ich finde das Tier. Das mit dem Milchabpumpen haben wir geübt. Die Saugglocken kann sie sogar schon selbst anlegen. Sie ist dankbar für die Erleichterung, die ich ihr alle drei Stunden verschaffe. Sie zwinkert mir zu, als ihre Brüste leer sind. Der Zwanzigliterkanister ist voll. Ich frage mich, ob das wirklich sein kann, mit dieser Menge. Selbst in meiner Welt ist das übertrieben. Nur habe ich keine Zeit, im Handy nachzusehen, da ein Milchmann mit Raketenrucksack schon vor der Tür wartet. Er übernimmt das frisch gewonnene Milchdrüsensekret, übergibt mir den dafür fällig werdenden Goldbarren, der mir natürlich wieder einmal auf den Fuß fällt, und düst ab.
Den Goldbarren bringe ich humpelnd zu unserem Zoodirektor. Im Moment der Übergabe wird es kurz hell und ich stehe in einem fensterlosen Labor. Statt grün-brauner Tierpflegermontur trage ich nun einen Kittel. Jetzt habe ich aber die Stahlkappenschuhe an, die mir vorhin fehlten. Irgendetwas läuft hier schief.
Der Raketenrucksackbote kommt durch eine Tür herein und übergibt mir den mit Gorillamilch gefüllten Kanister. Diesen bringe ich zu einem Saugstutzen einer Abfüllanlage. Dann muss ich hunderte halb gefüllte Babyfläschchen aufschrauben und auf eine Fördereinrichtung der Abfüllanlage stellen. Die Anlage rattert, saugt und schlürft. Am Ende kommen die Fläschchen vollständig gefüllt wieder heraus. Nun muss ich sie wieder zuschrauben.
Plötzlich habe ich schon wieder eine andere Rolle. Mit dem als Lieferwagen des Blumenhändlers »Durch die Blume« getarnten Kühltransporter liefere ich die Gebinde an Mütter mit Säuglingen aus. Nette Leute. Einem Kind halte ich meinen Zeigefinger hin, den es ergreift. Meine Güte, was für ein fester Händedruck. Die Mutter drückt mir einen grünen Euroschein mit drei Ziffern in die Hand und so ihre Dankbarkeit über die Existenz der letzten Muttermilchbörse aus, wenn sie auch illegal ist, wie sie zugibt.
Das Ende meiner Milchauslieferungstour ist der Beginn meiner Sammeltour. Ich klappere alle Tierparks in der Umgebung ab, um die dort angefallenen Gorillababykadaver in die Tierkörperbeseitigungsanstalt zu fahren. Es hat wohl neulich einen Aufschrei bei der Raubkatzenfütterung gegeben, weil so ein kleiner Affenkörper auch im Freigehege verfüttert wurde.
Auf dem Weg zur Entsorgung fahre ich an ein paar am Wegesrand stehenden Verschwörungstheoretikern vorbei, die dort mit Transparenten, selbstgemalten Schildern und einem Lautsprecherwagen vor der Muttermilchverschwörung warnen. Sie haben Kinder dabei, die an Armen, Beinen und im Gesicht auffallend dunkel behaart sind. Eigentlich müsste ich sie über den Haufen fahren und zu meinem Zielort mitnehmen. Aber, mein Herr ist kein Unmensch und lässt sie gewähren.
Wer glaubt denn schon daran, dass jemand eine illegale Börse für überschüssige Muttermilch betreibt, mit Literpreisen von über zweihundert Euro? Und, dass die Muttermilch dann auch noch mit Milch von Gorillas gestreckt wird, die nur vorhanden ist, weil die Gorilla-Babys geschlachtet werden?
Dann klingelt der Wecker. Glücklicherweise habe ich rechtzeitig alles aufgeschrieben und abgespeichert. Nun habe ich zwischen sechzehn und achtzehn Stunden Schlafpause. Hoffentlich erinnert sich mein Herr noch an diesen Traum! Heute wird er zum dritten Mal gechippt. Dann müsste ich endlich eine Verbindung zu dem Büronetzwerk und seinem Drucker aufbauen können.
Version 3 (ca. 6400 Zeichen), zuerst veröffentlich auf der Webseite des Schreiblust-Verlages
29.1.22