Verfütterungen
Mit drei kleinen Kindern im Tierpark. Die Sechsjährige verharrt an fast jedem Schild und versucht, etwas zu lesen. Die Vierjährige fragt mir entweder Löcher in den Bauch oder wandelt verträumt von Gehege zu Gehege. Und die Einjährige bewegt sich so unvorhersehbar, kreuz und quer durch den Park, wie ein Saugroboter im Expressmodus durch unser Wohnzimmer.
Wir kommen zum Pinguingehege. Dort beginnt gleich die Fütterung. Hoffentlich eine kleine Pause für mich. Die Kinder kleben an der Scheibe unterhalb des Beckengeländers, als ob sie Saugnäpfe im Gesicht und an den Händen hätten. Tatsächlich. Eine Pause für zehn Minuten.
Da kommt der Tierpfleger mit dem Eimer in der Hand und dem Mikrophon am Kopf zum Beckenrand des Geheges. Er fängt an etwas über die zehn Pinguine zu erzählen, die hier im Gehege leben. Welche Namen sie tragen, wie alt sie sind und ob sie im Tierpark oder in freier Wildbahn geboren wurden. Ist schon interessant, was Pinguine so alles erleben in ihrem Leben. Der älteste Pinguin in der Gruppe ist 37 Jahre alt. Mein Alter, denke ich. Hat bestimmt schon mehr erlebt als ich.
Der Tierpfleger greift immer wieder in den Eimer, um einen Fisch nach dem anderen zu verfüttern. Es sind Heringe, wie wir im Laufe der Vorführung erfahren. Und diese Heringe sieht man immer nur für einen kurzen Augenblick, wenn sie aus der Hand des Tierpflegers in einen Pinguinschnabel fliegen.
Ich frage mich, „Was sind denn die Heringe für Tiere gewesen?” Und da versuche ich, einen der Heringe, diesen einen Moment lang auf seiner Flugbahn zwischen Hand und Schnabel genauer zu beobachten.
Dieser eine Hering. Hatte er einen Namen? Was für ein Leben hat der Hering gelebt? War es ein erfülltes? Wie alt war er, als er gefangen, geschlachtet und zusammen mit den anderen Heringen zu einem Eisblock gefroren wurde? Ich habe gelesen, dass Heringe zwanzig Jahre alt werden können. War der Hering älter als der Pinguin, von dem er gefressen wurde? Hatte der Hering ein schönes, freies Leben, hatte er eine Familie? Verschlingt der Pinguin vielleicht gerade ein Stück Freiheit, das er selbst nie hatte?
War der Hering geschlechtsreif? Konnte er sich schon fortpflanzen und hat sein Nachwuchs überlebt? Oder ist es eine große Heringsfamilie, die vor meinen Augen an die Pinguine verfüttert wird. Könnte das Nachdenken über diese Fragen dem Pinguin vielleicht den Appetit auf den Hering verderben? Was geht dem Pinguin vielleicht gerade durch den Kopf?
Wie lange muss ein aus Hering bestehender Eisklotz wohl auftauen, bis man genug Heringe herauslösen kann, um den Futtereimer des Tiepflegers zu füllen? Sind die Heringe noch ganz? Oder sind sie schon zum Teil verarbeitet? Was fehlt? Kopf, Flossen, Innereien? Wer hat sie abgeschnitten? Wo sind die hin? Ernährt sich auch ein Tier davon?
Da muss ich an die Nahrungskette denken. Nicht an den Discounter von nebenan, sondern an das Prinzip von fressen und gefressen werden. Von wem werden Pinguine wohl gefressen? Das beantwortet mir die Suchmaschine in meinem Handy mit Seelöwe, Seeleopard, und Hai. Eisbären wohl nicht.
Es gibt Tierparks und Zoos, in denen Seelöwen, Seeleoparden und Haie gehalten werden oder wurden. Womit werden diese denn gefüttert? Mit Pinguinen? Wäre das artgerecht? Wäre das nicht sowohl für den Pinguin als auch für seinen Fressfeind artgerecht?
Würde dann der Tierpfleger bei der Seelöwenfütterung nur etwas zu den Seelöwen erzählen, oder vielleicht auch zu den Pinguinen, die er an die Seelöwen verfüttert? Wo käme der Pinguinnachschub her? Wachsen die Futterpinguine in dem Zoo auf, in dem sie verfüttert werden? Wie verkraftet das der Pinguintierpfleger? Hätten diese Pinguine überhaupt Namen? Lebten sie bei der Seelöwenfütterung noch?
Ein Pinguin passt nicht in einen Eimer. Wie wird er dann in das Seelöwengehege gebracht? Muss er selbst laufen? Kommt er einzeln oder zusammen mit seinen Pinguinkameraden? Bekommt er etwas davon mit, was ihn erwartet?
Pinguine haben Knochen. Hört man sie brechen, wenn der Seelöwe zupackt? Verschlingt er einen Pinguin am Stück? Beißt er immer ein Stück ab? Applaudieren dann die Zoobesucher? Kann man so ein Schauspiel Kindern zumuten? Seelöwenfütterung ab 16? Oder ab 18?
Wer bestimmt, wann welcher Pinguin an einer Seelöwenfütterung teilnimmt? Könnte man Zoobesucher dafür bezahlen lassen, an einer Abstimmung darüber teilzunehmen? Würde man Punkte dafür vergeben, dass ein Pinguin bleibt oder geht? Könnte man das auch als eine Tierpatenschaft bezeichnen? Wer entscheidet bei Gleichstand? Das Los? Das Alter des Pinguins? Das Geschlecht?
Werden die Pinguine vor ihrer Verfütterung selbst noch gefüttert? Welchen Sinn hätte das? Fisch und Fleisch in einer Seelöwenmahlzeit? Wäre der Fisch für den Seelöwen dann leichter verdaulich? Schmecken satte Pinguine vielleicht besser als hungrige?
Dann ist es vorbei. Die Pinguine sind satt. Eins, Zwei, Drei. Hunger, Durst, Windel wechseln und: Wo geht es als nächstes hin?
Was fressen eigentlich Störche?
29.3.20