Vom Heulen und Zähneklappern
von Winfried Dittrich
„Entschuldigen Sie, wir haben da mal eine Frage ...“
„Ja? Bitte fragen Sie.“
„Sind Sie Priester?“
„Bitte?“
„Katholischer Priester?“
Was für eine bescheuerte Frage, dachte ich. Dieses merkwürdige Ehepaar hatten wir die ganze letzte Woche schon im Speisesaal unseres Hotels beobachtet. Vor und nach dem Essen beteten die beiden immer. Ein Kreuzzeichen, eine Minute lang gesenkte Blicke auf den Teller, dann noch ein Kreuzzeichen. Danach lächelten die beiden und machten sich über die am All-Inklusive-Buffet gut gefüllten Teller her. Immer dieselbe Routine. Zwischendurch sahen sie zu uns rüber – wieder und wieder.
Auch meine Ehefrau und ich teilen das Hobby, andere Menschen zu beobachten, besonders andere Paare und Familien. Im Speisesaal unseres Urlaubshotels, in Restaurants oder an anderen Orten. Wir beobachten sie und denken uns passende Geschichten aus. »Legenden.«
Wie zum Beispiel die über das dritte Ehepaar aus Deutschland in diesem Hotel. Mein Tipp war, dass beide geschieden, gerade neu miteinander liiert und jetzt in ihrem ersten Liebesurlaub seien. Na ja, wie sich herausstellte, hatten die zwei schon ihre Silberhochzeit hinter sich, und dies war ihr erster Paar-Urlaub seit der Geburt des ersten Kindes. Man kann ja auch mal daneben liegen.
So daneben wie das betende Paar, das uns seit unserem ersten Abend im Hotel immer mit einem gewissen Sicherheitsabstand beobachtet hatte. Und jetzt kam diese Frage, ob ich katholischer Priester sei. Was für eine Antwort erwarteten sie denn wohl auf so eine Frage? Das war doch einfach unverschämt. Meinten die das ernst? Im ersten Augenblick war ich etwas verdutzt. Warum fragt man so etwas? Wie kommt man darauf? Doch dann ging mir ein Licht auf. Meine – von meiner Frau oft kritisierte – Angewohnheit, die Kleiderordnung der von uns besuchten Ferienunterkünfte vollkommen ernst zu nehmen und strikt einzuhalten. Diese Angewohnheit schien jetzt zu einer interessanten Unterhaltung zu führen.
In jeden Urlaub nahm ich bis dahin nämlich immer etwas Ordentliches zum Anziehen mit. Denn in den Urlaubshotels, die wir typischerweise besuchen, wird man am Eingang des Speisesaals stets durch Schilder darauf aufmerksam gemacht, dass die Mahlzeiten, aus Rücksicht auf die anderen Gäste, nicht in Badebekleidung einzunehmen seien. Ich bin ein sehr rücksichtsvoller Mensch und hatte deshalb immer eine Anzughose, mehrere Oberhemden, Lederschuhe und einen passenden Ledergürtel im Urlaubsgepäck.
In diesem Urlaub hatte ich zum ersten Mal meinen neuen e-book-Reader dabei, der in eine aus dickem Leder gefertigte Hülle eingefasst war. Von außen sollte es wie ein Buch aussehen. Und es ging bestimmt als Gebetbuch durch, wie mir in diesem Moment klar wurde.
„Woher wissen Sie das?“, fragte ich und tat so, als ob ich mich ertappt fühlen würde. „Dass ich Priester bin.“
Auf das Mitspielen meiner Ehefrau musste ich in dieser Situation nicht setzen. Sie war, kurz bevor ich angesprochen wurde, zum Buffet aufgebrochen, um sich in eine lange Warteschlange einzureihen.
„Wir haben einen Blick für so etwas“, erwiderte die Frau. Dann schloss sie die Augen und nickte verständnisvoll.
„Bitte behalten Sie das für sich und sprechen auch bitte meine Begleitung nicht darauf an, ja? Sie ist auf ihren Job angewiesen.“ Ich tat weiterhin so, als ob gerade ein großes Geheimnis gelüftet worden war. Innerlich lachte ich mich kaputt.
„Selten haben wir ein so gutes Wiener Schnitzel mit Pommes Frites gegessen, wie hier in diesem Berghotel auf Madeira. Das muss die Luft hier oben machen“, sagte meine Frau als sie mit einem Berg frischer Pommes Frites auf dem Teller zu unserem Tisch zurückkam. Das Schnitzel konnte man darunter kaum erkennen. Das Ehepaar nickte ihr zu und ging zum Buffet.
Um die Szene nach außen hin etwas authentischer zu machen nahm ich meine Frau an die Hand und führte sie aus dem Speisesaal. Die Überraschung und leichte Verwirrtheit musste sie somit nicht spielen. Sie nimmt mir solche Scherze nicht übel – wir haben da den gleichen, derben Humor. Den Spaß war es uns wert, das Abendessen abzubrechen. Diese „Enthaltsamkeit“ tat mir ohnehin gut, denn die Stoffhose kniff wegen der täglichen Schnitzel mittlerweile schon etwas.
Für den Rest des Abends hatten meine Frau und ich großen Spaß damit, uns vorzustellen, wie toll sich das betende Ehepaar nun fühlen musste, uns auf die Schliche gekommen zu sein. Das heißt, falls sie uns das Schauspiel überhaupt abgenommen hatten.
Ein paar Tage später trauten sie sich dann sogar – neugierig, wie sie offensichtlich waren – uns an der Hotelbar anzusprechen. Ganz unverfänglich.
Wo wir denn so herkämen ... Ach, so ein Zufall ... Auch aus NRW ... Sie aus dem Sauerland, wir aus dem Ruhrgebiet ... Ja, und was wir denn wohl so gemeinsam hätten ... Ja, in die Kirche würden sie regelmäßig gehen. Wir auch. Ich als alter Messdiener ... Ja, das Ruhrbistum, das reiche ja vom Ruhrgebiet bis ins Sauerland ... Da habe man sich vielleicht schon mal auf einer Wallfahrt gesehen ... Das könnte sein ... Ja, und sie würden bei der Kirche arbeiten ...
Dann wurde mir das Thema aber irgendwie zu heikel, die Fragen zu detailliert. Ich wollte ja nicht, dass unsere »Legende«, ein einfaches Ehepaar im Urlaub zu sein, aufflog. Ich lenkte das Gesprächsthema deshalb auf frühere Urlaube und andere Belanglosigkeiten, bevor ich mit einem Augenzwinkern darauf verwies, dass man ja auch im Urlaub bestimmte Pflichten zu erfüllen habe, nämlich die ehelichen. Wir verschwanden auf unserem Zimmer. Um „Verbotenes“ zu vollziehen, wie meine Frau und ich es seit der vermeintlichen Enttarnung unter uns nannten.
Neuerdings frage ich mich allerdings, ob ich zukünftig enthaltsam sein sollte. Nicht nur am Buffet, sondern auch, was so bestimmte Scherze angeht, die ich mit anderen Menschen treibe. Oder bei Geschichten, die ich ihnen erzähle.
Denn diese Begebenheit mit der kuriosen Frage wäre ein paar Wochen später schon fast vergessen gewesen, wenn da nicht diese Lesung in der Sonntagsmesse über das „Gleichnis vom Fischernetz“ gewesen wäre, die unser junger Pastor dann zum Thema seiner vielsagenden Predigt machte, in der es auch um selbstbestimmtes Handeln ging.
Matthäus 13, 47-50
Vom Fischernetz
47 Wiederum gleicht das Himmelreich einem Netz, das ins Meer geworfen ist und Fische aller Art fängt.
48 Wenn es aber voll ist, ziehen sie es heraus an das Ufer, setzen sich und lesen die guten in Gefäße zusammen, aber die schlechten werfen sie weg.
49 So wird es auch am Ende der Welt gehen: Die Engel werden ausgehen und die Bösen von den Gerechten scheiden.
50 Und werden sie in den Feuerofen werfen; da wird Heulen und Zähneklappern sein.
Diese Lesung und die Predigt hallten nach, als der Pastor am Tag darauf mit Sack und Pack verschwand. Drei Stunden lang, vor Sonnenaufgang, standen dort zwei Umzugswagen vor dem Pfarrhaus, bevor der Pastor über alle Berge war. Und die junge Dame, die ihm den Haushalt gemacht hatte, die war auch weg. Das hörten wir aus verlässlicher Quelle - in der Nachbarschaft sind wir gut vernetzt.
Über einen anderen Kanal hörten wir nach einigen Tagen, dass es wohl einen anonymen Hinweis innerhalb des Bistums gegeben hätte. Über einen Pastor aus dem Pott, der ein Verhältnis mit seiner Haushälterin hatte, was an sich noch relativ unspektakulär war. Aber die beiden seien wohl so dämlich gewesen, dies im Urlaub ganz offen und frech auszuleben. Wissentlich vor Gläubigen aus unserem Bistum. Daraufhin soll es Befragungen gegeben haben. Durch einen eigens vom Bischof beauftragten Referenten. Um der Sache nachzugehen, um Druck aufzubauen. Um den Übeltäter zu schnappen.
Und da ist unser Pastor wohl irgendwann ängstlich geworden und abgehauen. Sozusagen noch rechtzeitig aus dem Netz geschlüpft, bevor es zu weit zugezogen war.
Tja, und unser derber Scherz. Der hat das Leben eines armen Liebespaares zerstört. Oder zumindest ziemlich durchgeschüttelt. Man weiß es nicht.
Meine Frau und ich fragen uns jetzt, ob am Ende wir es sind, die in dem besagten Feuerofen landen, wenn wir uns nicht bald mal die Beichte zu dieser Geschichte abnehmen lassen. Nur ohne Pastor in der Gemeinde ist das schwierig.
Haben wir überhaupt etwas zu beichten?
14.8.20